Der Tag ist da: Das Baby wird zum Kleinkind, es
erreicht die magische 12-Monats-Grenze. Vielleicht läuft es schon, beginnt zu
sprechen, zeigt sich selbstständiger und entwickelt immer mehr einen eigenen Kopf. So scheinbar plötzlich, wie das Kind groß wird, sieht man sich als
Mutter, die sich bis zu diesem Zeitpunkt keinen Kopf um Entwöhnung gemacht hat,
mit einem neuen Stempel konfrontiert: Langzeitstillen. Das heißt per Definition
das Stillen über den vollendeten 12. Lebensmonat hinaus.
Plötzlich Langzeit statt normal
So zumindest war es bei mir. Da ich überhaupt keinen Sinn
darin sah, mein Kind mit sechs Monaten auf die Flasche umzugewöhnen und es
vorher ja auch gut ohne ging, stand ich da und stillte immer noch. Einige
seltsamen Kommentare (allen voran der Hausarzt, aber auch die Familie begann
irgendwann komisch zu schauen) kamen schon nach dem 6. Monat, obwohl das Küken
dort bereits feste Nahrung angeboten bekam und auch rasch zu einem guten Esser
mutierte.
„Das müssen Sie ihm abgewöhnen, von alleine macht er das
nicht“, „Es wird immer schwieriger, je älter sie werden“, „Das Kind wird
verwöhnt“ – wohlgemerkt, keine einzige dieser Floskeln auf einer verlässlichen
Datenlage begründet.
Also machte ich einfach weiter. Warum mir und ihm den Stress
antun, da irgendetwas zu experimentieren? Zumal er das Stillen ja schon
reduziert hatte, ich gehe also davon aus, dass er es auch zukünftig immer
weniger brauchen wird. Jetzt ist er also bald 15 Monate alt und wir stillen
immer noch. Er schläft auch ohne das Stillen ein, wenn ich nicht da bin. Er
nimmt abgepumpte Milch, aber nicht so recht begeistert. Er freut sich, wenn er
nach der Krippe stillen darf und genießt diese Moment. Er isst begeistert,
trinkt zum Einschlafen aber trotzdem noch gerne an der Brust. Und mir ist das –
ehrlich gesagt – einfach egal. Weder
mystifiziere ich den Vorgang, noch behaupte ich, wir hätten genau deswegen eine
stabile Bindung – das kann helfen, aber ich nehme an, wir hätten sie auch so.
Er freut sich, mich stört es nicht, also warum ihm nicht den Gefallen tun?
Es war also in meinem Fall keine bewusste Entscheidung für
das Langzeitstillen aus diesem oder jenem Grund. Weder wurde ich missioniert,
noch glaube ich ehrlich an irgendwelche bahnbrechenden Vorteile. Allerdings
genauso wenig an Nachteile.
Da ich aber ein sehr kritischer Mensch bin, habe ich diesen
Artikel mal zum Anlass genommen, ein wenig zu recherchieren. Das Ganze ist
sicher nicht ansatzweise vollständig – zu vielen Quellen, die ich gefunden
habe, fehlt mir ohne Lizenz auch einfach der Zugang – aber einige Ergebnisse
konnte ich dann doch finden. Entschuldigt die reine Angabe von Links statt der
saubereren Quellenangabe in den Verweisen.
Der Blick aus Forschung, Fachkreisen und Journalismus
Starten wir mit dem WHO-Klassiker:
„Breast milk is also an important
source of energy and nutrients in children aged 6 to 23 months. It can provide
half or more of a child’s energy needs between the ages of 6 and 12 months, and
one third of energy needs between 12 and 24 months. Breast milk is also a
critical source of energy and nutrients during illness, and reduces mortality
among children who are malnourished.“ (1)
Dass die WHO stillen ab
spätestens der 1. Stunde nach der Geburt bis zum 6. Monat voll, ergänzend zu
einer abwechslungsreichen(!) und gesunden (!) Ernährung bis zum 24. Lebensmonat
empfiehlt, müsste jeder Kinderarzt, jede Hebamme, jede Kinderkrankenschwester
wissen und weitergeben können. Beikosteinführung wäre demnach ab dem 6.
Lebensmonat, parallel wird weiterhin gestillt. Auf das Stillen im 1. Lebensjahr
möchte ich nicht weiter eingehen, wer gerne noch etwas zur frühen
Beikosteinführung lesen will, dem habe ich unter (4) einen entsprechenden
Artikel angehängt, einige interessante Vorteile des Stillens generell unter (5).
Es besteht bei einer längeren
Stilldauer ein Problem: Langzeitstillen allein hilft bei einseitiger
beziehungsweise unzureichender Ernährung nicht gegen Unterernährung und
entsprechendes Minderwachstum. (2) (3) Es ist davon auszugehen, dass diese
Komponente in unseren westlichen Industrienationen nicht zu Problemen führt.
Uns fällt es nicht schwer, unseren Kindern frühzeitig viele verschiedene
Nahrungsmittel anzubieten.
Langzeitstillen scheint das mütterliche
Risiko für Eierstock- und Brustkrebs zu reduzieren, gleichzeitig das für Osteoporose
zu erhöhen. (6) (7) (8) Ein kleiner interessanter Befund: Langzeitstillen
scheint die „richtige Atemtechnik“ (bis hierhin wusste ich nichtmal, dass man
falsch atmen kann) des Kindes zu fördern. (9)
Eine schöne Zusammenfassung der
bisher bekannten Vorteile zum Langzeitstillen findet man unter (10). Hier
werden dann tatsächlich auch eine bessere Bindung und gesundheitliche Vorteile
für das Kind benannt. Skeptisch stehe ich den angeblichen Vorteilen auf die
kognitive Entwicklung und die Einschätzung der Eltern zum Entwicklungsstand der
Kinder gegenüber: Ich behaupte, dass in westlichen Industrienationen vornehmlich
Eltern aus höheren Bildungsschichten sich dem Langzeitstillen annähern.
Entsprechend wäre der positive Einfluss auf die Entwicklung mehr dem sozialen
Umfeld, als dem Langzeitstillen als sich anzurechnen.
Kurz und treffend wird an anderer
Stelle beschrieben: „On the basis of the largest randomized trial ever
conducted in the area of human lactation, we found no evidence of risks or benefits
of prolonged and exclusive breastfeeding for child and maternal behavior.
Breastfeeding promotion does, however, favorably affect breastfeeding of the
subsequent child.“ (11) Auf das kindliche oder mütterliche Verhalten , das heißt
in diesem Fall Auffälligkeiten, die psychisch begründet wären, gibt es weder
positive noch negative Einflüsse. Allein die sozialen Stigmata, denen sich
langzeitstillende Mütter und später eventuell auch deren Kinder stellen müssen,
können zu Selbstzweifeln und einem schlechteren Selbstwertgefühl führen.
Zwei kontrastierende,
nicht-wissenschaftliche Artikel, die beide eine interessante Perspektive
aufwerfen, kommen von „Focus Online“ (12) und dem Europäischen Institut für
Stillen und Laktation (13). Während sich letzteres durchweg positiv zum
Langzeitstillen und dem individuellen Weg eines Mutter- Kind-Paares äußert und
die anthropologische Forschung von Dettwyler anführt, die das biologische Abstillalter
auf zwischen 2,5 und 7 Jahren datiert, findet Focus Online einen kritischen
Aspekt, dem sich nur wenige Mütter stellen wollen: Die Frage nämlich, ob das
Stillen wirklich vom Kind ausgeht, oder von den Müttern zwar nicht erzwungen,
aber doch im späteren Verlauf forciert wird. In einer entsprechenden Studie
gaben 18 von 181 Müttern beispielsweise an, das Stillen würde bei ihnen
teilweise sexuelle Gefühle hervorrufen.
Bedürfnisorientiert: Wessen Bedürfnisse sind gemeint?
Ich halte es für eine Aufgabe der
Mütter im Sinne der Bindungsentwicklung hin zu zunehmend mehr Autonomie, das
Kind nicht aktiv von der Brust zu entwöhnen – ein sicher gebundenes Kind wird
ohnehin immer mehr explorieren und die Brust immer weniger als Sicherheit
benötigen – aber ihm Alternativen anzubieten. Diese Alternativen sind sowohl
schöne, gemeinsame Erfahrungen bei Mahlzeiten und die Möglichkeit, das Essen
als lustvollen Genuss wahrzunehmen, aber auch Alternativen zum Trost und der
Rückversicherung.
Und obwohl ich nach wie vor kein
großer Freund des ominösen „Bauchgefühls“ bin, halte ich das für eine der größten
und wichtigsten Aufgaben, die wir Mütter erfüllen müssen: Zu spüren, was unser
Kind wann braucht und ihm das zu geben, auch wenn es mehr Distanz zu uns ist.
Und klar davon zu trennen, was unser eigenes Bedürfnis ist, unser eigenes
Bedürfnis nach Autonomie, aber auch nach Nähe zum Kind.
Das heißt nicht, dass wir uns
darüber selbst aufgeben sollen. Es heißt nur, nicht das Kind als Grund
vorzuschieben. Wenn wir aus persönlichen Gründen nicht stillen wollen, weil es
uns zu anstrengend ist, wir diesen Teil der Körperlichkeit nicht auf diese
Weise teilen wollen, wir mehr Freiheiten wollen, dann ist das unser Recht. Aber
wir müssen uns darüber klar sein, dass diese Entscheidung auf unseren Wünschen
basiert. Umgekehrt: Wenn ich mein Kind noch stille, wenn es zehn Jahre alt ist,
dann wäre es an der Zeit sich zu fragen, zu welchem Zeitpunkt der Entwicklung
ich nicht gemerkt habe, dass es vielleicht noch etwas anderes benötigt.
Kinder sind anpassungsfähig und
nehmen das an, was wir ihnen geben. Sie wollen mit uns eine gute Beziehung
haben, sie brauchen diese Beziehung. Sie werden (meistens) die Flasche
akzeptieren, wenn es sehr früh nur die Flasche gibt. Sie werden (meistens) den
Wunsch der Mutter akzeptieren, doch noch ein wenig länger zu stillen und sie
darin nicht allein lassen.
Aufruf für mehr Verständnis
Bevor das alles jetzt zu
belehrend wird – und ich bin mir sicher, dass es das zum Teil bis hierhin schon
war: Mein Sohn ist zum Glück sehr klar, wenn er etwas möchte oder nicht möchte.
Ihm die Brust aufgedrängt habe ich zuletzt bei einer Stillverweigerung mit vier
Monaten. Bei allen Reduzierungen hinterher habe ich darauf vertraut, dass er am
Besten weiß, welchen Bedarf er gerade hat. Solange er die Brust nicht aktiv
verlangt hat, habe ich sie ihm ab dem Zeitpunkt, als er das gestisch und mit
Lauten signalisieren konnte, nicht angeboten.
Für uns ist das bisher der
richtige Weg. Es sieht auch nicht so aus, als würden wir innerhalb des nächsten
halben Jahres vollständig abstillen, aber diese Prognose stört mich nicht. Ich
bin trotzdem noch nicht besonders gut darin, diese Entwicklung vor anderen zu
vertreten, knicke schnell ein, relativiere, obwohl es nichts zu relativieren
gibt. Denn es ist tatsächlich so: Ein Laufling, der noch gestillt wird, ist für
viele ein skurriler Anblick. Nicht, dass ich offensiv in der Öffentlichkeit
meine Brust auspacke, aber das Thema alleine anzusprechen, sorgt für irritierte
Blicke. Meistens lasse ich es deshalb.
Dabei finde ich es seltsam, eine
Altersgrenze zu ziehen. „Du bist nun 12 Monate alt, also gibt es ab heute keine
Brust mehr!“ ? Warum die eine Milch
gegen die andere ersetzen? Warum von einem bewährten System umsteigen, wenn es
für mich dafür keinen Grund gibt?
Versteht mich nicht falsch, ich
kann jeden verstehen, dem die Stillerei zu anstrengend ist, der wieder Alkohol
trinken will, der sich ohne Scheu jedes Medikament verschreiben lassen möchte
oder ein neues Tattoo will. Ich kann selbst die verstehen, die aus kulturellen Gründen
einfach kein Kleinkind an ihrer Brust haben wollen.
Aber da es wirklich keinen
wissenschaftlichen Grund gibt, warum ich das nicht tun sollte, weil ich meinem
Kind damit in keiner Weise schade, vielleicht sogar helfe…haben dann nicht auch
langzeitstillende Mütter ein Recht auf Verständnis?
Ich weiß nicht, wie lange
ich das Küken noch stillen werde. Vielleicht bin ich mal zwei Tage auf einer
Tagung und hinterher interessiert ihn die Brust nicht mehr. Vielleicht bekomme
ich ein zweites Kind und die Schwangerschaft lässt das Stillen unmöglich
werden. Vielleicht muss ich operiert werden. Vielleicht beschließt er, er ist
zu groß für die Brust.
(1)
http://www.who.int/mediacentre/factsheets/fs342/en/
, ganz genau findet man die Langzeiteffekte des Stillens unter http://biblio.szoptatasert.hu/sites/default/files/Long-term_effects_of_breastfeeding_WHO2013.pdf
(7)
Susan J. Jordan , Victor Siskind, Adèle C Green,
David C. Whiteman, Penelope M. Webb (2009). Breastfeeding and risk of
epithelial ovarian cancer. Springer VS
(13)
http://www.stillen-institut.com//asp_service/upload/content/Time-Magazin.pdf
Hallo Lerche, danke für den tollen Artikel zum Thema Stillen! Ich finde es toll, dass du so locker damit umgehen kannst und habe mir auch immer gedacht, ich würde das so machen. Letztlich hat mich die Stillerei dann aber doch angestrengt und genervt, sodass beide Mädchen nur 9 Monate gestillt wurden. (Aber immerhin!) Wie du schön beschrieben hast, war das mein Bedürfnis und nicht das des Kindes. Ich kam mir auch ein bisschen gemein vor, aber da Annika keine Kuschlerin ist und mich ständig und doll biss, hielten sich die Schuldgefühle in Grenzen. Ich genoss nach 3 Jahren mein erstes Bier und alles fühlte sich richtig an. Jeder findet seinen Weg.
AntwortenLöschen