Dienstag, 6. Oktober 2015

Und sie stillen immer noch - Toleranz fürs Langzeitstillen



Der Tag ist da: Das Baby wird zum Kleinkind, es erreicht die magische 12-Monats-Grenze. Vielleicht läuft es schon, beginnt zu sprechen, zeigt sich selbstständiger und entwickelt immer mehr einen eigenen Kopf. So scheinbar plötzlich, wie das Kind groß wird, sieht man sich als Mutter, die sich bis zu diesem Zeitpunkt keinen Kopf um Entwöhnung gemacht hat, mit einem neuen Stempel konfrontiert: Langzeitstillen. Das heißt per Definition das Stillen über den vollendeten 12. Lebensmonat hinaus.

Plötzlich Langzeit statt normal

So zumindest war es bei mir. Da ich überhaupt keinen Sinn darin sah, mein Kind mit sechs Monaten auf die Flasche umzugewöhnen und es vorher ja auch gut ohne ging, stand ich da und stillte immer noch. Einige seltsamen Kommentare (allen voran der Hausarzt, aber auch die Familie begann irgendwann komisch zu schauen) kamen schon nach dem 6. Monat, obwohl das Küken dort bereits feste Nahrung angeboten bekam und auch rasch zu einem guten Esser mutierte. 

„Das müssen Sie ihm abgewöhnen, von alleine macht er das nicht“, „Es wird immer schwieriger, je älter sie werden“, „Das Kind wird verwöhnt“ – wohlgemerkt, keine einzige dieser Floskeln auf einer verlässlichen Datenlage begründet.

Also machte ich einfach weiter. Warum mir und ihm den Stress antun, da irgendetwas zu experimentieren? Zumal er das Stillen ja schon reduziert hatte, ich gehe also davon aus, dass er es auch zukünftig immer weniger brauchen wird. Jetzt ist er also bald 15 Monate alt und wir stillen immer noch. Er schläft auch ohne das Stillen ein, wenn ich nicht da bin. Er nimmt abgepumpte Milch, aber nicht so recht begeistert. Er freut sich, wenn er nach der Krippe stillen darf und genießt diese Moment. Er isst begeistert, trinkt zum Einschlafen aber trotzdem noch gerne an der Brust. Und mir ist das – ehrlich gesagt – einfach egal.  Weder mystifiziere ich den Vorgang, noch behaupte ich, wir hätten genau deswegen eine stabile Bindung – das kann helfen, aber ich nehme an, wir hätten sie auch so. Er freut sich, mich stört es nicht, also warum ihm nicht den Gefallen tun?

Es war also in meinem Fall keine bewusste Entscheidung für das Langzeitstillen aus diesem oder jenem Grund. Weder wurde ich missioniert, noch glaube ich ehrlich an irgendwelche bahnbrechenden Vorteile. Allerdings genauso wenig an Nachteile.
Da ich aber ein sehr kritischer Mensch bin, habe ich diesen Artikel mal zum Anlass genommen, ein wenig zu recherchieren. Das Ganze ist sicher nicht ansatzweise vollständig – zu vielen Quellen, die ich gefunden habe, fehlt mir ohne Lizenz auch einfach der Zugang – aber einige Ergebnisse konnte ich dann doch finden. Entschuldigt die reine Angabe von Links statt der saubereren Quellenangabe in den Verweisen.


Der Blick aus Forschung, Fachkreisen und Journalismus

Starten wir mit dem WHO-Klassiker:
„Breast milk is also an important source of energy and nutrients in children aged 6 to 23 months. It can provide half or more of a child’s energy needs between the ages of 6 and 12 months, and one third of energy needs between 12 and 24 months. Breast milk is also a critical source of energy and nutrients during illness, and reduces mortality among children who are malnourished.“ (1)
Dass die WHO stillen ab spätestens der 1. Stunde nach der Geburt bis zum 6. Monat voll, ergänzend zu einer abwechslungsreichen(!) und gesunden (!) Ernährung bis zum 24. Lebensmonat empfiehlt, müsste jeder Kinderarzt, jede Hebamme, jede Kinderkrankenschwester wissen und weitergeben können. Beikosteinführung wäre demnach ab dem 6. Lebensmonat, parallel wird weiterhin gestillt. Auf das Stillen im 1. Lebensjahr möchte ich nicht weiter eingehen, wer gerne noch etwas zur frühen Beikosteinführung lesen will, dem habe ich unter (4) einen entsprechenden Artikel angehängt, einige interessante Vorteile des Stillens generell unter (5).

Es besteht bei einer längeren Stilldauer ein Problem: Langzeitstillen allein hilft bei einseitiger beziehungsweise unzureichender Ernährung nicht gegen Unterernährung und entsprechendes Minderwachstum. (2) (3) Es ist davon auszugehen, dass diese Komponente in unseren westlichen Industrienationen nicht zu Problemen führt. Uns fällt es nicht schwer, unseren Kindern frühzeitig viele verschiedene Nahrungsmittel anzubieten.
Langzeitstillen scheint das mütterliche Risiko für Eierstock- und Brustkrebs zu reduzieren, gleichzeitig das für Osteoporose zu erhöhen. (6) (7) (8) Ein kleiner interessanter Befund: Langzeitstillen scheint die „richtige Atemtechnik“ (bis hierhin wusste ich nichtmal, dass man falsch atmen kann) des Kindes zu fördern. (9)
Eine schöne Zusammenfassung der bisher bekannten Vorteile zum Langzeitstillen findet man unter (10). Hier werden dann tatsächlich auch eine bessere Bindung und gesundheitliche Vorteile für das Kind benannt. Skeptisch stehe ich den angeblichen Vorteilen auf die kognitive Entwicklung und die Einschätzung der Eltern zum Entwicklungsstand der Kinder gegenüber: Ich behaupte, dass in westlichen Industrienationen vornehmlich Eltern aus höheren Bildungsschichten sich dem Langzeitstillen annähern. Entsprechend wäre der positive Einfluss auf die Entwicklung mehr dem sozialen Umfeld, als dem Langzeitstillen als sich anzurechnen. 

Kurz und treffend wird an anderer Stelle beschrieben: „On the basis of the largest randomized trial ever conducted in the area of human lactation, we found no evidence of risks or benefits of prolonged and exclusive breastfeeding for child and maternal behavior. Breastfeeding promotion does, however, favorably affect breastfeeding of the subsequent child.“ (11) Auf das kindliche oder mütterliche Verhalten , das heißt in diesem Fall Auffälligkeiten, die psychisch begründet wären, gibt es weder positive noch negative Einflüsse. Allein die sozialen Stigmata, denen sich langzeitstillende Mütter und später eventuell auch deren Kinder stellen müssen, können zu Selbstzweifeln und einem schlechteren Selbstwertgefühl führen.

Zwei kontrastierende, nicht-wissenschaftliche Artikel, die beide eine interessante Perspektive aufwerfen, kommen von „Focus Online“ (12) und dem Europäischen Institut für Stillen und Laktation (13). Während sich letzteres durchweg positiv zum Langzeitstillen und dem individuellen Weg eines Mutter- Kind-Paares äußert und die anthropologische Forschung von Dettwyler anführt, die das biologische Abstillalter auf zwischen 2,5 und 7 Jahren datiert, findet Focus Online einen kritischen Aspekt, dem sich nur wenige Mütter stellen wollen: Die Frage nämlich, ob das Stillen wirklich vom Kind ausgeht, oder von den Müttern zwar nicht erzwungen, aber doch im späteren Verlauf forciert wird. In einer entsprechenden Studie gaben 18 von 181 Müttern beispielsweise an, das Stillen würde bei ihnen teilweise sexuelle Gefühle hervorrufen.


Bedürfnisorientiert: Wessen Bedürfnisse sind gemeint?

Ich halte es für eine Aufgabe der Mütter im Sinne der Bindungsentwicklung hin zu zunehmend mehr Autonomie, das Kind nicht aktiv von der Brust zu entwöhnen – ein sicher gebundenes Kind wird ohnehin immer mehr explorieren und die Brust immer weniger als Sicherheit benötigen – aber ihm Alternativen anzubieten. Diese Alternativen sind sowohl schöne, gemeinsame Erfahrungen bei Mahlzeiten und die Möglichkeit, das Essen als lustvollen Genuss wahrzunehmen, aber auch Alternativen zum Trost und der Rückversicherung.
Und obwohl ich nach wie vor kein großer Freund des ominösen „Bauchgefühls“ bin, halte ich das für eine der größten und wichtigsten Aufgaben, die wir Mütter erfüllen müssen: Zu spüren, was unser Kind wann braucht und ihm das zu geben, auch wenn es mehr Distanz zu uns ist. Und klar davon zu trennen, was unser eigenes Bedürfnis ist, unser eigenes Bedürfnis nach Autonomie, aber auch nach Nähe zum Kind.

Das heißt nicht, dass wir uns darüber selbst aufgeben sollen. Es heißt nur, nicht das Kind als Grund vorzuschieben. Wenn wir aus persönlichen Gründen nicht stillen wollen, weil es uns zu anstrengend ist, wir diesen Teil der Körperlichkeit nicht auf diese Weise teilen wollen, wir mehr Freiheiten wollen, dann ist das unser Recht. Aber wir müssen uns darüber klar sein, dass diese Entscheidung auf unseren Wünschen basiert. Umgekehrt: Wenn ich mein Kind noch stille, wenn es zehn Jahre alt ist, dann wäre es an der Zeit sich zu fragen, zu welchem Zeitpunkt der Entwicklung ich nicht gemerkt habe, dass es vielleicht noch etwas anderes benötigt.
Kinder sind anpassungsfähig und nehmen das an, was wir ihnen geben. Sie wollen mit uns eine gute Beziehung haben, sie brauchen diese Beziehung. Sie werden (meistens) die Flasche akzeptieren, wenn es sehr früh nur die Flasche gibt. Sie werden (meistens) den Wunsch der Mutter akzeptieren, doch noch ein wenig länger zu stillen und sie darin nicht allein lassen.

Aufruf für mehr Verständnis

Bevor das alles jetzt zu belehrend wird – und ich bin mir sicher, dass es das zum Teil bis hierhin schon war: Mein Sohn ist zum Glück sehr klar, wenn er etwas möchte oder nicht möchte. Ihm die Brust aufgedrängt habe ich zuletzt bei einer Stillverweigerung mit vier Monaten. Bei allen Reduzierungen hinterher habe ich darauf vertraut, dass er am Besten weiß, welchen Bedarf er gerade hat. Solange er die Brust nicht aktiv verlangt hat, habe ich sie ihm ab dem Zeitpunkt, als er das gestisch und mit Lauten signalisieren konnte, nicht angeboten.
Für uns ist das bisher der richtige Weg. Es sieht auch nicht so aus, als würden wir innerhalb des nächsten halben Jahres vollständig abstillen, aber diese Prognose stört mich nicht. Ich bin trotzdem noch nicht besonders gut darin, diese Entwicklung vor anderen zu vertreten, knicke schnell ein, relativiere, obwohl es nichts zu relativieren gibt. Denn es ist tatsächlich so: Ein Laufling, der noch gestillt wird, ist für viele ein skurriler Anblick. Nicht, dass ich offensiv in der Öffentlichkeit meine Brust auspacke, aber das Thema alleine anzusprechen, sorgt für irritierte Blicke. Meistens lasse ich es deshalb.

Dabei finde ich es seltsam, eine Altersgrenze zu ziehen. „Du bist nun 12 Monate alt, also gibt es ab heute keine Brust mehr!“ ?  Warum die eine Milch gegen die andere ersetzen? Warum von einem bewährten System umsteigen, wenn es für mich dafür keinen Grund gibt?
Versteht mich nicht falsch, ich kann jeden verstehen, dem die Stillerei zu anstrengend ist, der wieder Alkohol trinken will, der sich ohne Scheu jedes Medikament verschreiben lassen möchte oder ein neues Tattoo will. Ich kann selbst die verstehen, die aus kulturellen Gründen einfach kein Kleinkind an ihrer Brust haben wollen.
Aber da es wirklich keinen wissenschaftlichen Grund gibt, warum ich das nicht tun sollte, weil ich meinem Kind damit in keiner Weise schade, vielleicht sogar helfe…haben dann nicht auch langzeitstillende Mütter ein Recht auf Verständnis? 

Ich weiß nicht, wie lange ich das Küken noch stillen werde. Vielleicht bin ich mal zwei Tage auf einer Tagung und hinterher interessiert ihn die Brust nicht mehr. Vielleicht bekomme ich ein zweites Kind und die Schwangerschaft lässt das Stillen unmöglich werden. Vielleicht muss ich operiert werden. Vielleicht beschließt er, er ist zu groß für die Brust.
Ich werde es nehmen, wie es kommt. 





(7)   Susan J. Jordan , Victor Siskind, Adèle C Green, David C. Whiteman, Penelope M. Webb (2009). Breastfeeding and risk of epithelial ovarian cancer. Springer VS
(11)                      http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/18310164
(13)                      http://www.stillen-institut.com//asp_service/upload/content/Time-Magazin.pdf

1 Kommentar:

  1. Hallo Lerche, danke für den tollen Artikel zum Thema Stillen! Ich finde es toll, dass du so locker damit umgehen kannst und habe mir auch immer gedacht, ich würde das so machen. Letztlich hat mich die Stillerei dann aber doch angestrengt und genervt, sodass beide Mädchen nur 9 Monate gestillt wurden. (Aber immerhin!) Wie du schön beschrieben hast, war das mein Bedürfnis und nicht das des Kindes. Ich kam mir auch ein bisschen gemein vor, aber da Annika keine Kuschlerin ist und mich ständig und doll biss, hielten sich die Schuldgefühle in Grenzen. Ich genoss nach 3 Jahren mein erstes Bier und alles fühlte sich richtig an. Jeder findet seinen Weg.

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