Sonntag, 27. September 2015

"Du bist so inkonsequent" - Respekt und Augenhöhe in der Erziehung

Nach Solinas tollen Beitrag über ihre entspannte Haltung in der Erziehung, wollte ich auch ein Fazit ziehen. Unser Sohn ist nun über zwei Jahre alt und langsam wird erkennbar, dass wir einen für uns guten Weg gefunden haben und alle "du bist so inkonsequent"-Kommentargeber (wer kennt sie nicht?!) endlich Ruhe geben. 

Dein kompetentes Kind

Ich habe mich in einem früheren Beitrag schon als Fan der Jesper Juul "Pädagogik" geoutet, die nachhaltig unseren Erziehungsstil beeinflusst hat.

Quelle: Amazon (da meins gerade verliehen ist)

Bei Jesper Juuls Büchern hat man keinen wirklichen Erziehungsratgeber zu erwarten, weil er von seinen Erfahrungen als Familientherapeut berichtet und Eltern eher zu mehr Gelassenheit und Integrität aufruft als konkrete Verhaltensweisen zu diktieren. Als Leitlinie steht die Aussage, dass jedes Kind kompetent ist, d.h. als ein kompetent soziales Wesen auf die Welt kommt und weder erzogen werden muss noch sollte. Eltern und Kinder entfalten sich in einem demokratischen Miteinander am besten, bei dem ein liebevoller und respektvoller Umgang die Tagesordnung darstellt.

Abweichendes und problematisches Verhalten ist nie ein Zeichen von Trotz oder Bockigkeit des Kindes, sondern liegt in einem Problem in der Eltern-Kind-Beziehung begründet. Und Kinder sind im Endeffekt so schlau, uns sofort zu zeigen, wenn was nicht rund läuft und wir Eltern irgendwas machen, was ihre Integrität verletzt. Als Erwachsene in der Beziehung stehen wir dabei in der Verantwortung, das Problem zu erkennen und zu thematisieren.

Was heißt das konkret?

Klingt erstmal vielleicht ein bisschen nach Wischiwaschi-anti-autoritärer-Waldorf-Pädagogik (no offense, liebe Waldorfer), hat aber tatsächlich das Ziel, autoritäre Erziehung als grundsätzlich schädlich zu markieren. Womit wir natürlich unsere Eltern-Generation (und anderen) direkt mal vor den Kopf stoßen, denn bereits erwähnte "du bist so inkonsequent"-Aussagen werden am liebsten von denen getätigt, die sich von ihren Kinder "nicht auf der Nase rumtanzen lassen" wollen und sie notfalls auch an der Tankstelle stehen lassen, auf den Balkon zum Schreien rausstellen oder in sonst einer Art demütigen, nur um ihnen zu zeigen, wer das Sagen hat und dass die Kinder mit ihrem unerwünschten Verhalten nichts erreichen.

Als Soziologin stehe ich natürlich total auf die Grundaussage, dass alle menschlichen Beziehungen ein Ausdruck von Machtverhältnissen sind. Aber gerade die enge Eltern-Kind-Bindung sollte frei von Machtausübung, sprich Autorität, sein. Sondern auf einer Grundlage von Vertrauen und Verständnis aufgebaut werden.

Vielleicht ist meine Kindheit noch nicht lange genug zurück, als dass ich mich nicht noch allzu gut an die schlechten Gefühle erinnern kann, die so eine Machtausübung bei mir ausgelöst haben. Es gab keine Erklärungen, keinen Spielraum - in solchen Momenten fühlte ich mich klein und ungeliebt, nur weil ich was getan habe, was den Großen nicht passte.

Und dieses Gefühl wollte ich meinem Kind niemals vermitteln.

Demokratische Erziehung im Alltag

Das bedeutet allerdings nicht, dass die Kinder führungslos durch die Gegen marodieren können. Im Gegenteil: Demokratisch Erziehen bedeutet, dass man als Elternteil seine Rolle genauso wichtig und vor allem als solche auch wahrnimmt. Die eigene Integrität darf ebenfalls nicht verletzt werden, d.h. die Grenzen, die ich meinem Kind aufzeige, sind meine eigenen. 
Ganz entscheidend ist dabei auch die Vorbildfunktion, die ich einnehme. Mein Kind spiegelt mein Verhalten durch Nachahmung und Imitation - oder durch konkrete Ablehnung.

Warum sollte mir mein Kind zuhören, wenn ich es aber anschreie? Warum sollte es mich mit Respekt behandeln, wenn ich es umgekehrt auch nicht tue?

Keine Sanktionen

Wenn es per se kein "falsches" Verhalten gibt, macht es das Sanktionieren dieser redundant. Von Strafen und "Auszeiten" halte ich also persönlich nichts. Die lösen weder den Konflikt, noch machen sie Sinn - außer, dass sie dem Kind zeigen, wer mehr Macht hat. 

Doch wer Kleinkinder kennt, weiß, dass sie den Alltag auf den Kopf stellen, alles ewig dauert und sie ihren eigenen Kopf haben. Da ist man schnell genervt und will das Kind am liebsten in die Spur zwingen, damit es wieder funktioniert. Doch gerade diese "Trotzphase"- schöner gesagt "Autonomiephase" - ist wirklich wichtig, da das Kind seinen Platz in der Welt findet und erfährt, dass es Entscheidungen treffen kann und darf und soll. In dieser sensiblen Phase soll das Kind erleben, dass es nicht unterdrückt und gezwungen sondern ihm mit Respekt entgegnet wird.

Kinder sind nun mal Kinder und probieren viel aus. Dabei halten sie sich natürlich nicht an das, was Mama gerade am liebsten will. Demokratie hin oder her, aber mit einem Zweijährigen alles aushandeln zu wollen ist doch utopisch?!

Solche (vor allem Alltags-)Konflikte lassen sich meist wirklich nur mit viel Gelassenheit lösen. Ist es wirklich so schlimm, wenn das Kind in Gummistiefeln in die Krippe geht? Muss es wirklich am Tisch sitzen bleiben und essen, wenn es lieber spielen will? 

Nein, muss es nicht. Wie Solina in ihren Post schon geschrieben hat, ist es spätestens dann an der Zeit, selbst mal in Frage zu stellen, warum Dinge sein müssen. Weil sie immer so waren? Weil ich das auch musste? Trotzdem kann das Kind relevante soziale Normen und Konventionen lernen und dabei unsinnige zu Recht ignorieren. Etliche davon sind selten kindgerecht, vor allem die, die verlangen, dass sich Kinder wie kleine Erwachsene verhalten (hallo Nazi-Zeit). Als kompetenter Mensch geboren zu sein und damit schon von Natur aus sozial zu sein, bedeutet nämlich, dass Dinge wie Rücksicht, Anteilnahme und Respekt schon vorhanden sind und nicht anerzogen werden müssen.

Beispielsweise die Essenssituation, die in vielen Familien konfliktbeladen ist. Bei uns ist es so, dass unser Sohn nicht am Tisch sitzen und essen muss. Denn erstens setze ich ihm Mahlzeit und Portion vor (die darf er also auch weder schaffen noch mögen) und zweitens brauchen wir einfach länger als er, der als aktiver Zweijähriger Hummeln im Hintern hat. Wenn er gegessen hat (oder auch nicht essen will), darf er aufstehen und spielen, gleichzeitig hat er aber zu respektieren, dass Mama und Papa noch essen wollen und am Tisch bleiben.
Meistens kommt er eh zurück und will lieber bei uns sein als alleine spielen zu müssen. Es gibt kein Theater, weil wir nichts Unmögliches (über Gebühr Stillsitzen) von unserem Kind verlangen, nur, dass er auf unsere Wünsche Rücksicht nimmt.

In Restaurants versteht er die Besonderheit der Situation und bleibt bei allen am Tisch sitzen, beschäftigt sich mit einem Buch oder seinen Spielsachen. Hier greift wieder der Grundgedanke, dass Kinder sozial kompetent auf die Welt kommen und sich in ihre soziale Gruppe einfügen. Was ich tatsächlich nie anders erlebe.

Trotzdem: ist mein Sohn besonders krawallig drauf, darf er das auch sein. Tut er mir weh, gehe ich weg - anstatt ihn wegzusetzen - und erkläre ihm, dass ich so nicht mit ihm zusammen sein will. Macht er was kaputt, bin ich traurig über den Verlust und zeige ihm das auch. Kippt er Dinge aus, räumen wir sie danach zusammen wieder auf (und ich stelle sie danach einfach außer Reichweite). In keiner Situation gibt es einen Grund, ihn anzuschreien oder sauer auf ihn zu sein. Tue ich es doch, entschuldige ich mich dafür.

Es gib zig Alltagssituationen, die auf Grund meiner Haltung zu den Dingen, "die sein müssen" Konflikte mit meinem Kind produzieren, die sich mit einer demokratischen und kindgerechten Haltung dazu vermeiden ließen.

Eigentlich ist es relativ einfach und intuitiv, wenn man sich ein paar grundsätzliche "Verhaltensregeln" überlegt hat. Bei uns haben sich folgende im letzten Jahr etabliert:

1. Körperliche Nähe wird niemals verweigert: Eine Sache, bei der ich von eigentlich engen Familienangehörigen als inkonsequent dargestellt werde, die mir aber eine Herzensangelegenheit ist. Egal, wie mein Kind sich verhält oder was gerade los ist, ob er gerade doof zu mir war oder ich eigentlich beschäftigt bin, sucht mein Kind meine Nähe, bekommt er sie. Immer, da er sich niemals abgelehnt fühlen soll! Körperliche Zuwendung ist ein Grundrecht und tut nicht nur den Kindern, auch uns Eltern gut.
(Na gut, eine Ausnahme gibt es doch. Im Auto geht es wirklich schlecht ^^. )

2. Kinder wollen gesehen werden: Alles, was Kinder machen, ist Interaktion und Kontaktaufnahme. Unser Feedback ist entscheidend, ob und wie sich selbst in der Welt verorten und verstehen. Sie mit Nicht-Achtung zu strafen, halte ich persönlich für ziemlich gemein. Machen sie Dinge, "um uns zu ärgern", die man nach Expertenmeinung ja ignorieren soll, um ihnen das auszutreiben, frage ich mich eher, warum sie das machen (siehe genauer Punkt 7). Was drücken sie damit aus? Was zeigen sie uns? Müssen sie zu solch radikalen Methoden greifen, weil sie von uns sonst nicht gesehen werden?

3. Verhalten und Gefühle werden grundsätzlich erklärt: Ich finde Worte für Gefühle, nicht nur für die meines Kindes, sondern auch für meine. Mittlerweile erlebe ich, dass mein Zweijähriger tatsächlich ein extrem empathisches Verständnis für die Gefühlslagen seiner Mitmenschen entwickelt hat. Aber auch für sich selbst findet er nun Worte. Schreien oder Bocken kommt bei uns gar nicht mehr vor, er sagt deutlich, was er will oder nicht will oder zeigt es mit anderen Gesten, da er erfahren hat, dass Gefühlslagen in jeder Form immer respektiert werden und sein "Nein!" auch als solches akzeptiert wird. (Und wie schon geschrieben, erfährt er von mir, dass er so oft wie möglich mitentscheiden kann, erfahre ich von ihm, dass er auch kooperiert, wenn ICH es unbedingt möchte)

4. Mein Kind kann sich auf mich verlassen: Damit meine ich nicht, dass ich 24/7 zur ständigen Bedürfnisbefriedigung zur Verfügung stehe. Zum Glück verändert sich das nach dem ersten Lebensjahr des Kindes und man findet langsam aber sicher zu seinen eigenen Bedürfnissen zurück. Ich kann und will nicht immer so, wie mein Sohn es gerne hätte. Dank Punkt 3 versteht er es auch immer besser. Dabei biete ich ihm Alternativen an oder verspreche, seinen Wünschen später nachzukommen. Wenn ich bspw. koche und gerade nicht mit ihm spielen kann, holen wir das aber nach dem Essen nach. Selbst wenn er es bis dahin vergessen hat, halte ich mich an mein Wort. Immer und in jeder Situation, damit er mich als verlässliche Person erlebt. Das bedeutet aber auch, dass ich weder Dinge verspreche noch androhe, die ich eh nicht halten kann oder werde. Womit in meinen Augen solche Androhungen wie "wenn du jetzt das und das nicht machst, mache ich das und das!" einfach komplett überflüssig sind und meinem Kind eigentlich nur erst Angst machen, mit dem Ergebnis, dass es mich dann hinterher sowieso nicht mehr ernst nimmt.

5. Alles ist aushandelbar: Bei den vorangegangen Punkten und dem folgenden ist dieser Punkt entscheidend. In einer demokratischen Familie zu leben, heißt, dass jeder auf seine Kosten kommt und berücksichtigt wird. Manchmal muss man zurückstecken, kommt dafür aber später wieder an erster Stelle. Dabei zählen alle Familienmitglieder gleich und nicht nur einer bestimmt, wie es zu laufen hat. Dabei muss man für den Zweijährigen natürlich andere Mittel und Wege finden, die aber meistens relativ unproblematisch und kreativ gelöst werden können. Im Gegensatz zu älteren Kindern oder den Erwachsenen in der Familie, deren Wünsche und Bedürfnisse natürlich komplexer sind.

6. Der Rahmen ist vorgegeben, aber persönliche Freiheit wird respektiert: Natürlich gibt es Dinge, die sein müssen. Zähne putzen, sich anziehen, im Auto angeschnallt werden, sich in Bus und Bahn benehmen usw. . Doch gibt es genug Handlungsspielraum, den jedes Kind mitgestalten dürfen sollte (siehe Punkt 3). Er darf erst noch fertig spielen, bevor wir Zähne putzen (angekündigt), er darf sich eine andere Hose aussuchen, wenn er die von mir rausgelegte nicht anziehen will und er darf selbst ins Auto steigen und in den Sitz klettern oder muss die Schuhe ausziehen, wenn er in der Bahn auf den Sitz steigen will, um rauszugucken. Zeigt man seinem Kind, dass es Entscheidungsfreiheiten hat und man seinen Willen respektiert, respektiert es im Gegenzug auch, dass man gewissen Dinge von ihm verlangt, weil sie doch sein müssen.

7. Zeigt er "unerwünschtes Verhalten", frage ich mich, woher es kommt: Wie in Punkt 2 schon aufgeführt, habe ich wirklich nie erlebt, dass er was "einfach so" macht. Entweder dient es der Kontaktaufnahme oder ist ein Zeichen dafür, dass er sich missachtet fühlt oder er ahmt mich schlicht nach. Und dann ist es an mir, mein Verhalten zu ändern.

8. Wir genießen uns: Der wohl wichtigste Punkt. Bei allen Versuchen, sein Leben mit Kind irgendwie auf die Reihe zu bekommen, dem Kind genug Aufmerksamkeit zu schenken, sich trotzdem treu zu bleiben und man natürlich auch alles richtig machen will: die Zeit, die wir miteinander haben, ist so kostbar und das eigene Kind mit Abstand der wunderbarste Mensch, den man kennenlernen und begleiten darf. Da darf man auch ruhig mal zusammen einen Lolli vor dem Abendessen naschen, vor dem Fernseher gammeln und die Schlafenszeit nach hinten verschieben, weil gerade so schön gespielt wird.

9. Es gibt auch scheiß Tage: Ist so. Manchmal klappt gar nichts, man verliert die Fassung, ist ungerecht und genervt. Sowohl mein Kind als auch ich haben ein Recht darauf. So lange wir uns wieder aussöhnen und verzeihen, ist alles in Ordnung. Kinder als kompetente Menschen verstehen viel mehr als wir augenscheinlich meinen und von ihrer Art, schnell zu vergessen und zu vergeben, dabei wieder vorbehaltlos mit uns umgehen zu können, können wir Erwachsene noch eine Menge lernen.

Natürlich bedarf es bei so einer demokratischen Grundhaltung in der Erziehung ein relativ dickes Fell, da sie gerade von der Mehrzahl der anderen Erziehungsberechtigten mit verächtlichen Blicken bedacht wird. Vor allem, wenn ich geschlagene 20 Minuten auf dem Boden in der Krippe sitze und in Ruhe warte, bis sich mein Kind anziehen will. Oder er bei Tisch, nachdem er fertig ist, einfach aufsteht und geht. Oder oder oder - die Situationen sind zahlreich, die Meinungen anderer mir aber ziemlich egal. Ich erfahre meinen Sohn als einen liebevollen, rücksichtsvollen und eigentlich ständig gut gelaunten Menschen, an dessen Lebensrhythmus ich mich - zugegeben - auch sehr gerne anpasse. Deshalb bemühen wir uns weiter um eine demokratische Grundhaltung in der Erziehung. Schließlich gebe ich meinem Kind damit sehr wichtige Werte mit auf den Weg, anstatt ihn zu einem unproblematisch folgenden Soldaten zu erziehen.

Generell kann man also sagen, dass man abseits aller Ratgeber, Konventionen und Tipps wirklich seinen eigenen Weg finden sollte, dabei variieren kann, manche Phasen einfach überstehen muss und sich aber auch ändern darf. Dabei zählt nur, dass sich alle Beteiligten - Mama genauso so wie das Kind - damit wohl fühlen. 

2 Kommentare:

  1. die letzten beiden Einträge sind echt totaaaal toll und superinteressant! vielen vielen Dank für soviel Input und Inspiration und zusammengefasste ausführliche Gedanken. Das klingt tatsächlich realistisch und umsetzbar für alle Beteiligten

    AntwortenLöschen
  2. Das hast du wirklich toll geschrieben und ich finde euren Erziehungsstil bewunderswert. So in die Richtung möchte ich auch mal erziehen.
    Ich habe leider bei mir selbst einige Negativbeispiele gefunden. Ich arbeite als Erzieherin und da ist es oft sehr schwer einen demokratischen Erziehungsstil zu behalten, wenn 15 Kinder zwischen 2 und 4 machen was sie wollen. Aber ich arbeite an mir. Und ich denke bei den eigenen Kindern ist das auch besser umsetzbar.
    Lg Meli

    AntwortenLöschen